Erst Ramstein führte bundesweit zum Umdenken

 Frankfurt (epd). Pfingstsonntag, 22. Mai 1983: Während einer Flugschau auf dem militärischen Teil des Rhein-Main-Flughafens stürzt ein kanadischer Starfighter in Höhe des Waldstadions ab. Während sich der Pilot mit dem Schleudersitz retten kann, treffen brennende Wrackteile den Wagen der Pfarrersfamilie Jürges, die zufällig vorbeifährt. Martin Jürges (40), seine Frau Irmtraud (38), seine Mutter Erna (77) und seine beiden Kinder Katharina (1) und Jan (11) sind auf der Stelle tot; die 19-jährige Nichte Gesine Wagner stirbt 81 Tage später an ihren schweren Verbrennungen.

Die Nachricht vom tragischen Schicksal der Familie sorgte im Freundeskreis und in der evangelischen Gutleutgemeinde im Bahnhofsviertel für lähmendes Entsetzen und tiefe Trauer. »Ich konnte es nicht glauben. Also rief ich in meiner Verzweiflung im Flughafen an, um zu fragen, ob es überhaupt stimmt«, erinnert sich Kurt-Helmuth Eimuth, ein enger Freund der Familie. Auch Karsten Petersen, Freund und Pfarrer der benachbarten Weißfrauengemeinde, war »völlig geschockt«, als er die schrecklichen Bilder im Fernsehen sah.

Martin Jürges war seit 1982 Pfarrer im Gutleutviertel. Die meisten Bewohner waren Ältere und Alte, Ausländer und sozial Schwache. Und für alle hatte er ein Ohr. »Ihm war daran gelegen, die Lebensbedingungen im Viertel zu verbessern«, schildert Eimuth. Er habe sich unter anderem für das kommunale Wahlrecht von Ausländern und für Drogenabhängige eingesetzt. »Martin und ich haben in Ortsbeiratssitzungen regelmäßig mitdiskutiert und sind dabei nicht selten angeeckt«, ergänzt Petersen.
Die erste Todesanzeige, die am 24. Mai erschien, stammte von »deutschen und ausländischen Bewohnern des Gutleutviertels«. Darin hieß es unter anderem: »Martin Jürges war seinen Mitmenschen ohne Ansehen des Alters, des Standes, der Religion und der Nationalität verbunden. Er gab ihnen Halt.«

Zusammen mit dem stellvertretenden Kirchenpräsidenten Helmut Spengler und Dekan Hermann Strohmeier hielt Petersen am Pfingstmontag einen Gottesdienst in der Gutleutkirche. In seiner Predigt würdigte der Dekan aber nicht nur den Gemeindepfarrer Martin Jürges, sondern auch den »Kämpfer für den Frieden ohne Waffen«, der nun »mitten im so genannten Frieden« ein Opfer jener Waffen geworden sei, vor denen er ein Leben lang gewarnt habe.

Der damalige Frankfurter Propst Dieter Trautwein stellte am 30. Mai im Trauergottesdienst in der Katharinenkirche die Frage nach dem »Warum?« Es sei unerträglich, dass gerade diese Familie »Opfer menschlicher Machtdemonstration« geworden sei. Viele der 2000 Trauergäste trugen auf dem Weg zum Oberräder Waldfriedhof das violette Halstuch der Friedensbewegung.

Jürges‘ friedenspolitisches Engagement war eng verbunden mit seiner Zeit als Stadtjugendpfarrer von 1975 bis 1981. In dieser Funktion und als Vorsitzender des Frankfurter Jugendrings prägte er die Jugendpolitik der Stadt. Eimuth: »Martin Jürges war eine charismatische, durchsetzungsfähige Persönlichkeit. Und er war glaubwürdig – auch für diejenigen, die die Institution Kirche schon längst abgeschrieben hatten.«

Das tragische Unglück ließ nicht nur in Frankfurt, sondern in der ganzen Bundesrepublik die Forderung nach einem Verbot militärischer Schauflüge laut werden. Es habe danach mehrere Gespräche zwischen Kirchenvertreten und den Verantwortlichen in der Air-Base gegeben, die jedoch sehr unerquicklich gewesen seien, schildert Petersen. Die Militärs hätten darauf beharrt, dass selbst Schauflüge einen Übungseffekt hätten.

In Detmold, wo Martin Jürges geboren wurde und seine ebenfalls getötete Nichte lebte, sammelte eine Bürgerinitiative mehr als 7000 Unterschriften gegen Schau- und Tiefflüge über bewohnten Gebieten. Trotzdem blieb auch der damalige christdemokratische Verteidigungsminister Manfred Wörner stur und bezeichnete solche Flüge als »absolut notwendig«. Erst nach der Katastrophe von Ramstein fünf Jahre später, bei der 67 Menschen starben, wurde der tödliche Nervenkitzel aufgegeben.
Die Erinnerung an die Pfarrersfamilie ist in Frankfurt auch 25 Jahre nach ihrem Tod lebendig. Das Haus der Gemeinde in der Gutleutstraße 131 trägt den Namen von Martin Jürges, und beim Behördenzentrum hinter dem Hauptbahnhof befinden sich ein Gedenkstein und der »Familie-Jürges-Platz«.

21.5.2008

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